Proteine (Eiweiße) haben einen guten Ruf in der so schwierigen Ernährungsdiskussion. Zweifellos besitzen sie eine sehr große Bedeutung für unsere Körperzellen. Für Organsysteme wie Herz, Gehirn, Muskeln, Haut und Haare bilden sie den wichtigsten Baustoff. Darüber hinaus sind auch Enzyme, Hormone und Antikörper letztlich Proteine. Dieser Makronährstoff ist also viel komplexer, als es Kohlenhydrate oder Fette sind. Vereinfacht könnte man sagen, dass Kohlenhydrate und Fette vorwiegend als Energielieferanten dienen, während Proteine kompliziertere Aufgaben erfüllen.
Proteine bestehen aus kleinen Bausteinen, den Aminosäuren. Davon gibt es zwanzig, die zu komplexen Aminosäureketten zusammengebaut werden. Ein Protein kann aus bis zu mehr als 1000 Aminosäuren bestehen. Acht Aminosäuren (Valin, Isoleucin, Leucin, Lysin, Methionin, Phenylalanin, Threonin, Tryptophan) werden als essentiell eingestuft, weil wir sie ausschließlich mit der Nahrung aufnehmen können. Allerdings lassen neueste Studien vermuten, dass der Körper doch in der Lage ist, sie selbst herzustellen.
Der Mensch kann Protein im Gegensatz zu Fett und Kohlenhydraten (in Form von Fett) nicht speichern. Im Notfall, in langen Hungerperioden werden Proteine allerdings aus den Muskeln als Reserveenergiestoff abgegeben. Muskelprotein wird dann zur Bildung von Zucker für unser Gehirn genutzt. Ein Muskelabbau ist aber nie sinnvoll oder gesund. Beim längeren Heilfasten wird darum eine Mindestmenge an Kalorien über Säfte oder Gemüsebrühe zugeführt, um einen Proteinabbau aus den Muskeln zu vermeiden. Eiweißmangel gibt es in Europa fast gar nicht mehr, außer bei extremer Fehlernährung sowie einigen schweren Erkrankungen. Anders ist die Situation in Entwicklungsländern, wo die Proteinmangelernährung Kwashiorkor zu einem Hungerödem mit dem typisch aufgeblähten Bauch führt und für die Betroffenen bedrohlich ist. Noch immer sind sehr viele Kinder von dem Hungerödem betroffen.
Ebenso wie ein Mangel ist auch ein Überfluss an Nahrungseiweiß nicht gesund. Nierenprobleme, Verdauungsstörungen, vor allem aber die Förderung von Entzündungsprozessen im Körper können die Folge sein. Darum Hände weg von Proteinshakes in den coolen Flaschen im Fitnessstudio, wo Protein quasi als eigene Trainingseinheit verkauft wird. Hüten Sie sich auch vor eiweißreichen Diätpulvern; sie sind eine ungesunde Geldverschwendung. Essen Sie stattdessen reichlich pflanzliche Proteine am besten pur, also nicht als Dosen-, Tiefkühlkost oder Fertiggericht, sondern so natürlich wie möglich (Nüsse, Hülsenfrüchte, Vollkorngetreide, Blattgemüse, Saaten).
Protein sättigt viel besser als Kohlenhydrate und Fett. Auch wenn es zunächst so aussieht, als wäre Fett bei mehr Kalorien (1g Protein hat 4kcal, 1g Fett etwas über 9kcal) der bessere Sattmacher, so zeigen Studien, dass das nicht stimmt. Nimmt man die gleiche Kalorienzahl an Protein und Fett zu sich, hält das Eiweiß länger vor. Evolutionsbiologisch macht das Sinn. Da Protein nicht gespeichert werden kann, aber für so viele Abläufe in unserem Körper so überaus wichtig ist (wichtiger als Fett), ist es eine »kluge« Sache, hier zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Denn wenn ich die Wahl habe, bevorzuge ich natürlich immer den Nahrungsstoff, der mich länger sättigt.
Eiweiß lässt den Blutzuckerspiegel nicht ansteigen, aus diesem Grund muss für Protein alleine kein Insulin ausgeschüttet werden. Bei einem niedrigen Insulinspiegel wird Fett verbrannt, auch über Nacht. Gestaltet man seine Abendmahlzeit also protein- statt fett – oder kohlenhydratreich, kann Protein in der Tat eine Gewichtsabnahme unterstützen.
Immer wieder ist zu lesen, dass ein 30-prozentiger oder höherer Proteinanteil bei Diäten Wunder wirkt. Tatsächlich kann man damit kurzfristig zügig Gewicht reduzieren. Auch zur Behandlung einer Fettleber kann eine zeitlich begrenzte Proteindiät günstig sein. Langfristig jedoch tun Sie sich und Ihrer Gesundheit mit einer proteinreichen Ernährung keinen Gefallen.
Der renommierte Italo-US-amerikanische Altersforscher Valter Longo sagte in einem Spiegel-Interview 2018: »Ich kenne keine Bevölkerungsgruppe mit langer Lebensdauer, die auf hohe Protein- und Fettzufuhr gesetzt hat.« Seine Kritik am Protein fußt auf den Ergebnissen langjähriger Forschungen, in denen er dem Geheimnis der Zellalterung nachging. In Zusammenarbeit mit anderen Forschern wurde ihm dabei zunächst klar, dass mit Anti-Aging-Medikamenten und -Vitaminen nichts zu holen war. Stattdessen zeigte sich, dass durch eine Reduzierung der Kalorienzufuhr oder wiederholtes Fasten bei allen Lebewesen, von der Hefe bis zur Maus, das Altern hinausgezögert werden konnte. Und das um spektakuläre 20 bis 40 Prozent.
Longo ging dann systematisch der Frage nach, ob dieser tatsächliche Anti-Aging-Effekt – das übliche Anti-Aging in der Medizin versucht ja eher die Spuren des Alters zu verdecken – nur durch Reduzierung der Gesamtenergiezufuhr oder auch durch Weglassen einzelner Nahrungsbestandteile erreicht werden kann. Und tatsächlich, es waren vor allem die Aminosäuren, insbesondere die Aminosäuren tierischer Herkunft, die den Alterungsprozess beschleunigten. Das Ergebnis verwunderte: Genau das Protein, das so unerlässlich für das Wachstum und den Körperbau ist, soll uns schneller altern lassen?
Für dieses »Paradoxon« (Wachstum, aber Alterung) sind zwei Protein-Akteure wesentlich, die das Körperzellwachstum steuern und an der Alterungsuhr drehen: das Protein mTOR und das Peptidhormon IGF-1. mTOR ist eine Art Steuerzentrale für Wachstumsaufgaben, es reguliert die Proliferation, die Differenzierung und Vermehrung von Zellen. Bodybuilder setzen entsprechend Proteindrinks ein, um ihren Muskelaufbau anzufeuern. IGF-1 ist ein (Muskel-)Wachstumsfaktor, der vor allem von tierischem Protein getriggert und vermehrt in der Leber produziert wird. Es überrascht nicht, dass der insulinähnliche Wachstumsfaktor als unerlaubtes Dopingmittel verwendet wird.
Wachstum ist im Kindesalter erwünscht, aber irgendwann sind wir alle ausgewachsen. Werden Proteine in konzentrierten Mengen und als entsprechende Substanzen wie in Fitnessdrinks oder als Doping einem Erwachsenen zugeführt, fördern diese auch das Wachstum von Krebszellen. In Laborexperimenten ist dieser Zusammenhang von mTOR und IGF-1 mit Krebszellwachstum eindeutig. Werden Versuchstiere mit Krebserkrankungen proteinreich ernährt, sterben sie um ein Vielfaches häufiger als Tiere unter proteinarmer Kost.
So wichtig Wachstum in jungen Jahren ist, so gefährlich sind zu starke Wachstumssignale für ältere Organismen. Krebs zeichnet sich ja vor allem durch unkontrolliertes Wachstum aus. Interessanterweise haben größere Menschen generell ein leicht erhöhtes Krebsrisiko.
Eine sehr proteinreiche und noch dazu hochkalorische Nahrung ist also ein guter Nährboden für Krebswachstum. Aber auch Gefäßverkalkungen und Entzündungen wie Arteriosklerose werden durch zu viel tierisches Protein angefeuert. Entzündungen auf Zellebene sind wahrscheinlich eine der Hauptursachen für vorzeitiges Altern. Man spricht in diesem Zusammenhang von »Inflammaging«.
Wie viel Eiweiß ist gerade noch gesund, um satt zu werden und den Körper mit allen wichtigen Aminosäuren in ausreichender Menge zu versorgen, und wie viel ist schädlich? Die Antwort ist relativ einfach: Der Körper sollte reichlich mit pflanzlichem Protein, aber keinesfalls mit großen Mengen an tierischem Protein ernährt werden, denn tierisches und pflanzliches Protein hat offensichtlich unterschiedliche Wirkung auf unsere Gesundheit.
Wissenschaftler berechnen hierbei gerne den Anteil des Proteins an der gesamten Energieaufnahme durch die Nahrung. Bei den Blue Zones und den gesündesten weltweiten Ernährungsformen beträgt er meist 14 bis 17 Prozent. Bei den Bewohnern auf Okinawa betrug er 1950, als die Forscher die beeindruckende Langlebigkeit der Menschen dort erstmals notierten, gerade einmal neun Prozent!