Ratgeber

Sind arbeitslose Menschen kränker?


Welche Erkrankungen stecken hinter diesem erhöhten Risiko frühzeitig zu sterben? Es sind vor allem psychische und kardiovaskuläre Erkrankungen, die bei arbeitslosen Menschen gehäuft vorkommen (Herbig et al. 2013). Hier fällt die Parallele zu den Erkrankungen auf, die durch Arbeitsstress verursacht werden. Häufiger sind es auch gewaltsame Ereignisse (Unfälle etc.), die primär unabhängig von Erkrankungen die erhöhte Sterblichkeit erklären können.
Zu den psychischen Erkrankungen zeigt die internationale Literatur, zusammengefasst in mehreren Metaanalysen: Psychische Erkrankungen treten bei langzeitarbeitslosen Menschen etwa doppelt so häufig auf wie bei entsprechenden Erwerbstätigen. Die hohe Zahl geht vor allem auf das Konto von Depressionen. Angststörungen sind insgesamt in der Gesamtbevölkerung häufig, verglichen mit dieser unterscheiden sich auch Arbeitslose nicht sehr; vergleicht man arbeitslose aber mit berufstätigen Menschen, sind letztere erheblich weniger von Angst geplagt. Die Datenlage zu übermäßigem oder zumindest riskantem Alkoholkonsum ist gemischt: Zwar finden sich, wie es dem gängigen Vorurteil entspricht, insbesondere bei männlichen Arbeitslosen häufiger Personen, die zu viel Alkohol konsumieren; bei genauerem Hinsehen sind aber Ursache und Wirkung oft umgedreht: Häufig führt ein Alkoholproblem in die Arbeitslosigkeit – und nicht umgekehrt. Und zuletzt: Auch wenn man gesunde arbeitslose Menschen ohne die genannten psychischen Erkrankungen auf ihr psychisches Wohlbefinden hin untersucht, findet man eine verminderte Lebenszufriedenheit, die mit der Dauer der Arbeitslosigkeit weiter abnimmt.
Was wissen wir speziell über den psychischen Gesundheitszustand arbeitsloser Menschen in Deutschland? Das Bundesgesundheits-Survey gibt als repräsentative Querschnittstudie ein klares Bild: Mehr als 3000 Berufstätige und über 400 als arbeitslos gemeldete Personen wurden vor einigen Jahren sehr aufwendig untersucht, mit einem ärztlichen Interview, mit Blutentnahme, mit einer psychiatrischen Befragung, und dann hinsichtlich gesundheitlicher Aspekte verglichen. Klarer Befund: Depressionen, in geringerem Maß auch Angststörungen, sind bei arbeitslosen Menschen deutlich häufiger. Dies können wir auch in unseren eigenen Untersuchungen zur Gesundheitsförderung bei Langzeitarbeitslosen feststellen; darüber hinaus fiel uns der hohe Grad an Vereinsamung auf, der Anteil an Menschen, die keinen Partner haben, keine festen Bindungen. Auch dies kann wieder Ursache und Folge der großen Häufigkeit psychischer Erkrankungen sein, die unter Arbeitslosen anzutreffen sind.
Auch körperliche Erkrankungen sind häufiger bei langzeitarbeitslosen Menschen, die Datenlage ist allerdings nicht so eindeutig.
Ähnliches wurde durch eine andere schwedische Studie bestätigt, die den Trick anwendete, nur Arbeitslosigkeit infolge einer Schließung von Betrieben zu untersuchen, um den möglichen Fallstrick zu vermeiden, dass erste Krankheitszeichen einer Person zum Jobverlust geführt haben könnten, nicht umgekehrt – der Jobverlust zur Krankheit. In den nächsten 12 Jahren nach den Betriebsschließungen stieg die Zahl der Krankenhausbehandlungen von Männern und Frauen aufgrund von Alkoholfolgen und die von Männern aufgrund von Verkehrsunfällen und Suizid an.
Die führende Todesursache in westlichen Industrienationen sind aber nach wie vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen, mit dem Herzinfarkt als prominentester Manifestation. Auswertungen von deutschen Krankenkassendaten über Personen, die aus einem Arbeitsverhältnis in Arbeitslosigkeit wechselten, zeigten, dass Krankenhauseinweisungen aufgrund von Herzinfarkten mit der Dauer der Arbeitslosigkeit anstiegen: in den ersten 8 Monaten um 49 %, nach 8 bis 16 Monaten um 82 % und nach mehr als 16 Monaten um insgesamt 208 %. Ähnliches berichtete eine US-amerikanische Studie; hier ging es um mehrere Tausend Personen im Alter über 50 nach Verlust des Arbeitsplatzes. Trotz Berücksichtigung eventueller Unterschiede bei typischen Herzinfarkt-Risikofaktoren erlitten die arbeitslos Gewordenen – im Vergleich zu weiterhin berufstätigen Personen – in den nächsten 10 Jahren mehr als doppelt so viele Herzinfarkte und Schlaganfälle. Diese Ergebnisse sind nicht unbestritten: Die o. g. schwedische Studie, die die Auswirkung des Arbeitsplatzverlustes durch Schließung von Betrieben untersuchte, fand hingegen keinen Anstieg der Krankenhauseinweisungen aufgrund von Herzinfarkten und Schlaganfällen. Was schließen wir daraus? Insgesamt spricht vieles dafür, dass arbeitslose Menschen ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen tragen, auch wenn die Datenlage nicht ganz so klar ist wie bei den Depressionen. Für das Angebot von Hilfen für einen gesünderen Lebensstil geben die Befunde allemal Anlass:
Was einen Ausgleich im Lebensstil bewirken könnte, wurde in England bei Männern mit unterschiedlichem sozioökonomischem, hier beruflichem, Status durchgespielt. Wie erwartet, hatten Menschen mit höherem beruflichem Status weniger Herzinfarkte (7,5 %) als solche mit niedrigerem Status (11 % Herzinfarkte). Interessant ist nun die Frage, wie diese Statistik aussähe, wenn alles getan würde, was man tun kann, um Herzinfarkte und Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei beiden Gruppen zu verhindern: Sportförderung, gesunde Ernährung, nicht rauchen, Verhinderung und richtige Behandlung von Diabetes, von Hochdruck, von erhöhtem Cholesterin etc. Natürlich würde in beiden Gruppen die Häufigkeit für Herzinfarkte sinken. Ganz wesentlich aber ließe sich durch eine optimale Gesundheitsförderung die Differenz zwischen Menschen mit niedrigerem und höherem sozioökonomischem Status verringern. Übertragen auf den Zustand der Arbeitslosigkeit lässt sich annehmen, dass hier ein großes gesundheitliches Potenzial durch optimale Verringerung von Risikofaktoren besteht.

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