Falsche Ernährung gilt landläufig als eine der wichtigsten Krankheitsursachen. Das offizielle Organ der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), die »Ernährungs-Umschau«, beziffert die volkswirtschaftlichen Verluste aufgrund von Krankheitskosten auf jährlich über 50 Milliarden Euro. Es ist aber der Auffassung, dass »intensive Bemühungen um eine echte Prävention« nicht nur einen beträchtlichen Teil der Kosten einsparen helfen könnten, sie seien auch »die aussichtsreichsten Maßnahmen, um dem einzelnen viel Leid zu ersparen«.
Die DGE stützt sich bei dieser Einschätzung auf die Studie »Ernährungsabhängige Krankheiten und ihre Kosten«. Darin finden sich säuberlich aufgelistet nach Krankheitsbildern die Gesamtausgaben für Behandlungen, Reha-Maßnahmen usw. So weit, so gut. Der springende Punkt dabei: Wann ist eine Krankheit »ernährungsbedingt«? In dieser Studie wurden beispielsweise alle Fälle von Herz-Kreislauf-Versagen – also auch die von über Neunzigjährigen – als vermeidbare Folge falscher Ernährung eingestuft! Dazu kommen zahlreiche weitere Leiden, bei denen eine Verbindung zur Ernährung vermutet wird, wie Osteoporose oder verschiedene Arten von Krebs. Sie wurden ebenfalls komplett und nicht etwa nur anteilig als Ernährungsfehler gewertet. Wohl ist einsichtig, dass die Kosten für Karies dazuzählen, aber dürfen gleich alle Zahn- und Kieferbehandlungen plus sämtliche Kosten für alle denkbaren Magen- und Darmkrankheiten in denselben Topf geworfen werden? Sogar eine Erbkrankheit, die Phenylketonurie, wurde in das Zahlenwerk geschmuggelt. Addiert man dann noch Autoimmunkrankheiten wie Diabetes Typ l dazu, kommt man ganz leicht über die magische Grenze von 50 Milliarden Euro.
Andere Einflüsse, wie die genetische Veranlagung, wurden bei der Berechnung erst gar nicht berücksichtigt. Dafür wird beispielsweise behauptet, dass bei täglichem Karottenkonsum 65 Prozent aller Lungenkrebsfälle verhütbar gewesen wären; daneben verblasst sogar der Einfluss des Rauchens … Mehr als peinlich überdies, dass sich die Autoren regelmäßig bei der Prozentrechnung vertan haben. Da kommt es schon mal vor, dass die Ernährung zu mehr als 100 Prozent an einer Erkrankung schuld ist.
Zweifel bestehen nicht nur am Anteil der Ernährung an Krankheiten, sondern auch an der Richtigkeit der Diagnose. Wenn über Neunzigjährige aus Altersschwäche das Zeitliche segnen, wird für den Totenschein mühelos auf »Arteriosklerose« erkannt. Viele Angaben auf Totenscheinen sind Verlegenheitsdiagnosen, unter anderem, weil Patienten, die an den Folgen einer Operation gestorben sind, eher unter »Herzversagen« als unter »Operationskomplikation« gebucht werden. Und wenn die Ernährungsexperten diese Erkrankung für ernährungsbedingt halten, hätten die Patienten rein statistisch gesehen mit Vollkornbrot, Radieschen und Magerquark bis zum Jüngsten Gericht fröhlich weiterleben können.
Basis des Irrtums ist eine stillschweigende Vereinbarung: Eine Krankheit gilt dann als ernährungsabhängig, wenn die Mehrzahl der Experten, die auf der Grundlage der behaupteten Zusammenhänge ihr Geld verdienen, diese Ansicht teilen. Aus demselben Grunde herrscht auf Kongressen von Psychologen Einigkeit darüber, dass die Mehrzahl aller Krankheiten psychisch bedingt ist, auf Veranstaltungen von Mikrobiologen hört man, dass nicht nur Grippe und Aids, sondern auch Diabetes, Arteriosklerose und Herzinfarkt die Folge von Infekten sind, während die Umweltmediziner überzeugt verkünden, eine wachsende Zahl von Krankheiten sei umweltbedingt. Dabei werden von allen besonders gern Leiden vereinnahmt, die als Zivilisations- oder Wohlstandskrankheiten gelten.
Wohlstand bedeutet aber nicht nur mehr und »besseres« Essen, längeres Leben und andere Krankheitsbilder. Fast alle typischen Merkmale des Wohlstands lassen sich mit ein bisschen Mathematik mit den sogenannten Zivilisationskrankheiten korrelieren: die Dichte der Verkehrsschilder und der Arztpraxen, die Menge an verkauftem Hundefutter, Farbfernsehern und Gartenzwergen, die Zahl der Studienabbrecher oder der Hygienestandard, der Benzinverbrauch, das Müllaufkommen und der Umfang des Steuerrechts. Doch das bleibt bei Ernährungsstudien fast immer außen vor. Der Zeitgeist hat sich auf der Suche nach einer Ursache anders entschieden: Schuld am Infarkt (oder was auch immer) ist ein Mangel im Überfluss. Haben wir womöglich unterschwellig ein schlechtes Gewissen, weil es uns – zumindest in den Industrienationen – heute besser geht als allen vorangegangenen Generationen? Suchen wir selbstquälerisch nach einem Haken im Glück? Essen bedeutet immer auch Lustgewinn, und das Versagen von Lust ist eine harte Strafe – die Strafe für das unverdiente Glück Wohlstand?
Wenn Brustkrebs oder Schlaganfall statistisch zunehmen (aber tun sie das wirklich? Werden sie vielleicht nur sicherer diagnostiziert? Oder werden wir heute schlicht alt genug, um diese Krankheiten zu bekommen, während die Menschen früherer Jahrhunderte wegen aus heutiger Sicht relativ banaler Infektionskrankheiten im jugendlichen Alter das Zeitliche segneten?), hat das etwas Beängstigendes. Es erinnert uns an unsere eigene Sterblichkeit. Entschlossen sagen wir den modernen Todesursachen den Kampf an. Ein »Sieg« könnte uns die Angst vor Infarkt, Alzheimer oder Krebs nehmen. Zumindest so lange, bis uns die Experten mit der »beängstigenden Zunahme« einer neuen Todesart konfrontieren, logischerweise einer weiteren Folge unseres modernen Lebens. Jede Krankheit, die »besiegt« ist, zieht eine neue und absolut tödliche nach sich. – Darauf können Sie Gift nehmen.