Ein überlastetes Stresssystem macht dick. Auf diese einfache Formel lässt sich also ein Phänomen bringen, von dem Millionen Menschen weltweit betroffen sind, woran Ärzte und Ernährungsexperten oftmals scheitern, die Abnehm-Industrie Milliarden verdient, die Gesundheitspolitik versagt und viele, viele Menschen verzweifeln. Das Problem zu erkennen und klar benennen zu können, ist ein wichtiger Fortschritt – weil so in der Forschung, der Behandlung und bei der Aufklärung Energien und Kapazitäten freigesetzt werden können, die bislang an falsche Grundannahmen und verkehrte Vorstellungen gebunden sind. Nach einer langen Wanderung in die falsche Richtung sind wir wieder zum Ausgangspunkt zurückgekommen, aber dieses Mal haben wir einen eindeutigen Hinweis, welcher Weg eingeschlagen werden muss. Das Ziel ist klar: Bildlich gesprochen gilt es, möglichst schnell Exitstrategien aus dem Haifischbecken aufzuzeigen, in das so viele Menschen geraten sind. Aber das ist nur die grobe Richtung. Wohin genau der Weg führen wird, welche Hindernisse es zu bewältigen gilt und wie wir sie meistern können, ist noch unklar.
Gesundes Abnehmen durch Diät plus Sport? Wie eine ambitionierte Studie abgebrochen werden musste – wegen Nutzlosigkeit
Eine Antwort wollte die ambitionierte Look-Ahead-Studie der US -National Institutes of Health geben. Es ging um die Frage, ob eine kalorienreduzierte Ernährung zusammen mit einem Bewegungsprogramm die Lebenserwartung von Menschen mit hohem Körpergewicht und einem Typ- 2 -Diabetes verlängern kann. Elf Jahre hatten insgesamt 5145 »übergewichtige« und adipöse – also nach herkömmlicher medizinischer Auffassung »stark übergewichtige« – Patienten mit Typ- 2 -Diabetes an diesem Langzeitexperiment teilgenommen. Hier haben wir also über 5000 dicke Menschen, die nach gängiger medizinischer Meinung der Hochrisikogruppe für eine kardiovaskuläre Erkrankung, wie zum Beispiel Herzinfarkt, angehören. Mit der Look-Ahead-Studie sollte endlich nachgewiesen werden, welches positive Behandlungspotenzial in regelmäßiger Bewegung und Kalorienreduktion steckt. Daher entschied man sich beim Design für die höchste Evidenzklasse (Klasse 1 ): Die Teilnehmer wurden zufällig (d. h. randomisiert) jeweils einer von zwei Gruppen zugewiesen: In der Kontrollgruppe wurden nur allgemeine Informationen über die Notwendigkeit einer gesunden Lebensweise ausgegeben, was erfahrungsgemäß wenig Wirkung erzielt. In der Interventionsgruppe hingegen unterzogen sich die Teilnehmer einer fettarmen Reduktionsdiät. Hinzu kam ein Sportprogramm mit 175 Minuten Bewegung in der Woche.
Die letzten Zwischenauswertungen der Studie hatten gezeigt, dass die Teilnehmer unter der Diät tatsächlich abnahmen. Auch nach vier Jahren betrug die Gewichtsabnahme noch 5 Prozent, was in Diätstudien keinesfalls selbstverständlich ist (in der Kontrollgruppe konnten die Teilnehmer das Gewicht lediglich um 1 Prozent reduzieren). Vorläufige Ergebnisse zeigten außerdem eine Linderung der Schlaf-Apnoe sowie eine Verbesserung der Beweglichkeit.
Doch das eigentliche Ziel, eine Reduktion der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität, die als Spätfolge des Diabetes als wichtigster Grund für eine verminderte Lebenserwartung gelten, wurde auch nach elf Jahren nicht erreicht. Unabhängige, regierungsfinanzierte Studien dieser Qualität und Größenordnung sind schwer zu realisieren, weil die Kosten enorm sind. Umso größer muss die Enttäuschung bei den Beteiligten des Forschungsprojekts gewesen sein: Statt einer Bestätigung der Vermutung, dass Abnehmen durch gesunde Ernährung plus Sport das Leben verlängert, hatten sich die Maßnahmen als wirkungslos herausgestellt; denn in der Abnehm-Gruppe traten im Vergleich zur Kontrollgruppe nicht weniger Herz-Kreislauf-Probleme und Todesfälle auf. Der therapeutische Effekt war gleich null. Im September 2012 brachen die US -National Institutes of Health die Studie wegen Nutzlosigkeit ab. Doch letztlich bestätigt das Ergebnis der Look-Ahead-Studie nur, was andere Forschungsarbeiten zuvor gezeigt haben: dass Abnehmen kein Ausweg aus der »ungesunden Stressfalle« ist.
Die Look-Ahead-Studie steht für das grandiose Scheitern der Strategie, durch Abnehmen die menschliche Gesundheit zu verbessern. Doch was würde passieren, wenn wir die umgekehrte Richtung einschlügen? Also nicht den Körper durch Diäten zur Gewichtsreduktion zu zwingen, sondern stattdessen einen Weg aus der Stressfalle zu suchen, um so natürlich abzunehmen?
Raus – einfach nur raus …
Erinnern wir uns noch einmal an die Frauen aus Boston, Chicago, New York und anderen US -Metropolen. Ihr Haifischbecken – das war die sozial zerrüttete und gefährliche Nachbarschaft, die kaum Jobs und kein gesichertes Einkommen ermöglichte. Sie zogen mit Hilfe öffentlicher Unterstützungsmaßnahmen in eine bessere, stabilere Gegend um, und auch in ihrem Inneren trat in der Folge eine Stabilisierung ein: Ihr Stresssystem konnte sich beruhigen, weil die Stressoren – die Haie – aus ihrem Leben verschwunden waren. Ein deutlich sichtbares Symptom dieser äußeren wie auch inneren Veränderung zeigte sich in der Stabilisierung des Wohlbefindens und des Körpergewichts der Frauen im Vergleich zu denen, die in ihren prekären Lebensumständen zurückblieben. Diese Studie belegt eindrucksvoll, welches Potenzial darin steckt, das jeweilige Haifischbecken zu verlassen.
Natürlich sind Armut und soziale Enge lediglich ein – wenn auch sehr starkes – Umfeld, das von psychosozialen Stressoren bestimmt wird. Letztlich können die Haie überall sein – auch in »Gewässern«, die wesentlich friedlicher erscheinen. Wie alle Räuber herrschen sie über ihr Revier, und wer darin lebt, wird von ihnen unweigerlich kontrolliert. Darin liegt das Wesen des psychosozialen Stressors: Er gewinnt dann die Oberhand, wenn er das Stresssystem des Menschen, der mit ihm konfrontiert wird, dominiert. Im Extremfall geht das so weit, dass ein Mensch in einer solchen Situation nach und nach immer weitere Bereiche seines Lebens an den Stressor oder die Stressoren abgibt. Er verliert schleichend die Kontrolle über sein Leben; und sein Stresssystem, das ständig in Alarmbereitschaft ist, läuft auf Hochtouren. In den meisten Fällen ist es nicht möglich, mit menschlichen Haien zu verhandeln und auf Einsicht oder Besserung zu hoffen. Es ist Teil ihres Wesens, dass sie meist aus einer Position der Stärke und Überlegenheit heraus agieren. Also versuchen wir, ihnen aus dem Weg zu gehen. Dahinter steckt ein Wunsch, der – so legitim er ist – sich in den allermeisten Fällen nicht realisieren lässt, nämlich dort zu bleiben, wo wir sind, und eine Lösung zu finden, die es uns ermöglicht, zum Beispiel den stressreichen Job zu behalten und trotzdem das Stresssystem wieder in die Ruhelage zu bringen. Leider lassen sich solche Stressoren aber weder wegreden noch besänftigen, genauso wenig wie bei einem realen angriffslustigen Hai in einem echten Ozean, der einen Schwimmer umkreist. So können wir meistens den Stressor nicht besiegen, sondern uns lediglich habituieren – als B-Typ mit Gewichtszunahme und einer Dämpfung des Stresssystems oder als A-Typ, der immer stärker unter Strom gerät und aufpassen muss, dass er nicht ausbrennt. Einfach gesagt: Wenn es um psychosoziale Stressoren geht, können wir nicht aus unserer Haut.
In einem großen Versicherungsunternehmen werden Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter zu Abteilungen zusammengefasst. Der eine oder andere kennt das vielleicht aus der parodistischen TV -Serie »Stromberg«, deren Hauptfigur eine wunderbare Persiflage des »Büro-Hais« ist. Solche Gruppen oder Abteilungen bergen eine Menge Konflikt- und Spannungspotenzial. Da kann es um Dienstpläne gehen, Urlaubszeiten, unterschiedliche Auffassungen über die Arbeitshaltung von Kollegen, um Machtspiele, wer wem etwas zu sagen hat, um das Gefühl, ausgenutzt zu werden, um soziale Kontrolle. Eine derartige Konstellation birgt somit ein hohes Risiko, zum beruflichen Haifischbecken zu mutieren. Oberflächlich betrachtet würde man das aber nicht unbedingt merken: Alle sind per Du, man erzählt sich mehr oder weniger Privates – kleine Sorgen und Nöte, Sehnsüchte, Urlaubspläne usw. In einem Haifischbecken können Menschen, die mit derartigen Informationen freigebig und offen umgehen, allerdings schnell unter Druck geraten. Denn private Informationen werden schnell gegen den verwendet, der sie preisgibt. Spricht zum Beispiel jemand über seine Einsamkeit, kommt das später womöglich so zurück: »Du bist ja alleine, da macht es dir bestimmt nichts aus, an Weihnachten und Silvester zu arbeiten.« Wer jetzt keine Argumente findet oder den Konflikt scheut, wird sich wahrscheinlich ärgern und das Gefühl haben, ungerecht behandelt zu werden. Und wenn sich so etwas wiederholt, hat allein der Gedanke an die nächste Dienstplanbesprechung das Potenzial, das Stresssystem dieser Person, die sich aufgrund ihrer Einsamkeit nicht nur schwach, sondern jetzt auch noch von den Kollegen ausgenutzt und unter Druck gesetzt fühlt, auf Touren zu bringen. Spätestens jetzt hat sich der Stressor »Dienstplan-Besprechung« der Kontrolle über das Stresssystem bemächtigt.
Nach dem hier beschriebenen Prinzip kann jede bekannte Schwäche von Kollegen oder Vorgesetzten mit »Hai-Verhalten« missbraucht werden, um eigene Interessen durchzusetzen, zum Beispiel lästige Aufgaben abzuwälzen, einen Sündenbock zu finden. Im Grunde handelt es sich um eine Art Erpressung auf der Basis von sozialer Kontrolle, die sich aus privaten Informationen über eine oder mehrere Personen speist. Man könnte hier jetzt natürlich einiges darüber sagen, wie klug oder unklug es ist, im Kollegenkreis über private Dinge zu sprechen. Doch das trifft nicht den Kern des Problems, es kann nur erheblich zur Verschärfung beitragen. Der Kern des Problems besteht darin, dass sich »Haifische im Wasser befinden«. Und selbst wenn man sie nicht anlockt, indem man zum Beispiel aus einer Wunde Blut verliert – also analog zu unserem Fall keine Einblicke ins Privatleben gewährt –, ändert das nichts daran, dass man nach wie vor im Wasser ist – ebenso wie die Haie.
Strukturen wie die hier beschriebenen sind für den Einzelnen so gut wie nicht veränderbar. Ebenso könnte man, um im Bild zu bleiben, die Haie höflich bitten, aus dem Becken zu verschwinden. Wie also mit der Situation umgehen? Wer verharrt, wird über kurz oder lang herausfinden, zu welchem Stresstyp er gehört – A oder B. Denn die Habituierung an den Stress ist für den, der dazu die erbliche Veranlagung hat, unvermeidlich. Wer dem Stress entgehen will, muss genau das buchstäblich tun: gehen – also kündigen oder sich versetzen lassen, in der Hoffnung, dass der nächste Job kein Haifischbecken ist. Das ist mitunter kein leichter Schritt, aber ein sinnvoller. Verharren birgt so gut wie keine Chance, dass sich die Lage verbessert, Veränderung schon.
Ähnlich lassen sich auch die Stressoren in bestimmten privaten Beziehungen betrachten. Wenn sich die Partnerschaft als Haifischbecken herausstellt, ist eine Trennung auf jeden Fall ein vielversprechender Lösungsansatz, um das eigene Stresssystem in Sicherheit zu bringen. Natürlich haben zwei Menschen aber auch die Chance, zusammenzubleiben und an dem Zustand etwas zu verändern – metaphorisch gesehen also die Haie aus ihrer Beziehung zu vertreiben. Das Bild von den Haien steht ja nicht nur für konkrete Personen, sondern auch für bestimmte Verhaltensmuster, die sich ändern lassen. Doch davon später mehr.
Besonders schwierig ist die Lage allerdings, wenn die Familie zum Haifischbecken geworden ist. Wenn zum Beispiel Eltern in unglücklicher Beziehung leben und sich daraus Konflikte im Zusammenleben mit ihren Kindern ergeben, wenn Alkohol- oder Drogenabhängigkeit eines Familienmitglieds zur Belastung für alle wird oder wenn den Kindern eine innige und vertraute Beziehung zu den Eltern oder anderen erwachsenen Bezugspersonen fehlt. Das Haifischbecken in einer so belastenden Situation zu verlassen, ist ein sehr schwieriger, wenn nicht sogar unmöglicher Schritt. Innerhalb einer Familie sind die emotionalen Bindungen ebenso stark wie die Verstrickungen, so dass sie selbst bei räumlicher Trennung Bestand haben. Eltern, die sich um ein drogensüchtiges Kind sorgen, entkommen ihrer Not und ihrem Kummer keineswegs dadurch, dass ihr Kind nicht mehr zu Hause lebt. Es ist leider nicht möglich, auf die Besonderheiten familiärer Konfliktsituationen im Rahmen dieses Buches näher einzugehen – dafür ist das Thema zu komplex und vielschichtig.