Es gibt also verschiedene Arten, Fettdepots anzulegen. Aber was ist dann »Übergewicht«? Gibt es so etwas überhaupt? Und: Wann ist ein Mensch schon dick oder noch schlank? Gerade diese einfach anmutende Frage hat es in sich. Bis vor wenigen Jahren berechnete man in der Medizin noch Idealgewicht, Normalgewicht und Übergewicht. Diese Formel war aus verschiedenen Gründen wissenschaftlich nicht haltbar und wurde durch den Body Mass Index ersetzt. Aber auch hier hält man bis heute an Einteilungen wie Normalgewicht, Untergewicht und die verschiedenen Stufen des Übergewichts fest. Ein BMI von 25 gilt dabei als Demarkationslinie zwischen normalem – also gesundem – und überdurchschnittlichem – also ungesundem – Gewicht. Genau an dieser Stelle kommt es allerdings zu gravierenden Denkfehlern: Erstens, dass es ein einziges Normgewicht gibt, das auf jeden Menschen gleichermaßen anwendbar ist. Zweitens die daraus resultierende Annahme, dass ein BMI von über 25 den Menschen krank macht. Legen wir bei der Beurteilung des Körpergewichts die Erscheinungsformen der Stresstypen A und B zugrunde, ergibt sich ein ganz anderes, überraschendes Bild.
Die Körpermasse eines Menschen, der als Typ B in eine stressvolle Umgebung gerät, nimmt im Laufe des Lebens zu. Wie wir bereits wissen, ist die dicke Erscheinungsform dieses Menschen Ausdruck einer Strategie, die Energieversorgung des Gehirns sicherzustellen und zugleich das Stresssystem runterzufahren und die Cortisolwerte zu senken. So wird den allostatischen Belastungen des Hoch-Cortisol-Zustandes, also der Beschleunigung von Alterungsprozessen, entgegengewirkt. Die Gewichtszunahme oder Fettleibigkeit ist quasi eine Nebenwirkung – der Preis für eine erfolgreiche Stressdämpfung.
Menschen des Stresstyps A bleiben in stressvoller Umgebung meist hingegen lange schlank, entwickeln nach einigen Jahren aber einen so genannten Cortisolbauch. Ihr Taillenumfang wächst. Diese Form der Fettansammlung stellt ebenfalls eine Anpassungsstrategie an Dauerstress dar. Genauer gesagt, ist der wachsende Bauch eine Folge dauerhaft erhöhter Stresshormone im Körper und wird zum »Outsource«-Energiedepot des Gehirns. Tatsächlich ist der Cortisolbauch ein Zeichen für ein dauerhaft aktiviertes Stresssystem. Die Psychiatrieprofessorin Elissa Epel von der University of California in San Francisco hat darauf hingewiesen, dass der »Stressbauch« gut als medizinischer Marker taugt, der anzeigt, wie groß die allostatische Last in den letzten Jahren und Jahrzehnten war. Da ein Bauch klinisch einfach zu erfassen ist (Maßband), hat man also einen greifbaren Risikomarker, welcher anzeigt, wie stark ein dauerhaft aktiviertes Stresssystem die Gefäße schädigt (Arteriosklerose), das Herz-Kreislauf-System belastet und so das Risiko für Herzinfarkte oder Schlaganfälle erhöht.
Als kritisch gilt ein Taillenumfang dann, wenn bei Frauen der so genannte Taillen-Größen-Index 2 größer ist als 0,48 (bei Männern > 0,53). Diese Betrachtung macht deutlich, warum die ganze Diskussion um das so genannte »Übergewicht«, das ja den gesamten Körperumfang (BMI) berücksichtigt und nicht speziell das Verhältnis vom Bauchumfang zum Körper, ins Leere läuft. Denn in Wirklichkeit gibt es so etwas wie »Übergewicht« gar nicht. Es gibt lediglich verschiedene Formen der Anpassungdes Körperfettgewebes an den tatsächlichen Energiebedarf des Gehirns in unterschiedlich gefährlichen Umgebungen. Damit können gesundheitliche Risiken einhergehen, die aber nicht zwangsläufig mit höherem Körpergewicht verbunden sind. Die Personenwaage als Instrument zur Feststellung eines erhöhten Herz-Kreislauf-Risikos hat also ausgedient.
An dieser Stelle wird sich mancher Leser fragen, wie man erkennen kann, zu welchem Typ man gehört und ob der eigene Bauch cortisolbedingt ist – oder nicht. Absolute Gewissheit über den Anteil des abdominalen Fetts im Bauchraum kann nur eine Computertomographie geben. Mit diesem bildgebenden Verfahren lässt sich exakt darstellen, wie viel Fett sich zwischen den Darmschlingen befindet. Wer die typische Silhouette eines Stress-A-Typs aufweist (kugelrunder Bauch, dünne Arme und Beine, schmale Hüfte) kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sein Bauchfettanteil hoch ist.
Wenn wir nun die gesamte Bevölkerung unter dem Aspekt von Cortisolbelastungen betrachten, kommen wir zu zwei Möglichkeiten, wie sich die menschliche Erscheinungsform verändern kann:
Typ A. In einer ruhig-sicheren Umgebung ist Typ A schlank und weist keine erhöhten Cortisolwerte auf. Wer als A-Typ unter diesen Bedingungen lebt, verfügt über einen ausgeglichenen Hirnstoffwechsel, ein ausbalanciertes Stresssystem in Ruhelage; weder im Gehirn noch im Körper läuft ein Energie-Sparprogramm, Alterungsprozesse vollziehen sich langsamer als bei den Dauergestressten. Das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist unauffällig. Mit einer Zunahme des Körpergewichts ist nicht zu rechnen.
In einer stressvoll-gefährlichen Umgebung hingegen verändern Typ-A-Menschen ihre Erscheinungsform. Ihre Cortisolwerte sind dauerhaft erhöht. Die Ausbildung eines Cortisolbauchs ist eine typische Folgeerscheinung. Ihr restliches Körperfett bleibt gleich oder nimmt sogar ab. Auch Muskelmasse und Knochenmasse nehmen ab. Ihr Gedächtnis wird schlecht, ihre Stimmung auch. Die Fortpflanzungfähigkeit nimmt bei Mann und Frau ab. Die allostatische Last dieser Menschen ist hoch, das Risiko von Herz- und Kreislauf-Erkrankungen ist erhöht, die Lebenserwartung deutlich verkürzt.
Sich dauerhaft in stressvoller Umgebung aufzuhalten – etwa familiär oder beruflich – führt zu einem hochaktiven Stresssystem. Auf chronischen Stress reagieren Menschen genetisch bedingt unterschiedlich. A-Typen bleiben unter Dauerstress schlank oder nehmen zunächst sogar weiter ab, entwickeln später aber einen größeren Taillen- bzw. Bauchumfang. Ihr Stresssystem bleibt hochaktiv. Menschen des Typs B hingegen passen sich an den Stress an – ihr Stresssystem wird gedämpft, wird niedrigreaktiv, aber als Nebenwirkung nehmen sie an Gewicht zu. Ihre Figur lässt sich als dick und hüftbetont beschreiben. Hellgraue Kreisfläche = ausgeglichener Hirnstoffwechsel; dunkelgraue Kreisfläche = destabilisierter Hirnstoffwechsel.
Typ B. In der ruhigen Umgebung sieht Typ B genauso aus wie Typ A, schlank und entspannt. Er lässt sich unter stressfreien Bedingungen nicht von Typ A unterscheiden.
In einer stressvoll-gefährlichen Umgebung verändern Typ-B-Menschen sich ebenfalls, aber sie nehmen eine andere Erscheinungsform an als Typ A: Ihr Stresssystem wird durch die Dauerstress-Belastung Träger und reagiert kaum noch. Das nennt man »Habituation«, »Gewöhnung«. Ihr Cortisolspiegel ist deshalb normal oder nur leicht erhöht (obwohl die Welt um sie herum feindlich bleibt). Sie reiben sich weder auf, noch verzehren sie sich. Und bei ihnen wächst das Bauchfett nicht oder zumindestnicht so stark. Da aber ihr Stresssystem funktionseingeschränkt ist und das Gehirn nicht mehr ausreichend aus den Körperdepots versorgen kann, müssen Typ-B-Menschen mehr essen, um ihr Gehirn zu bedienen, und sie nehmen überall am Körper an Gewicht zu. Das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist für Typ-B-Menschen aufgrund ihres niedrigeren Cortisolspiegels insgesamt deutlich niedriger als beim Stress-Typ A in der stressvollen Umgebung.
Was ist nun also von der bis heute verbreiteten medizinischen Einschätzung zu halten, dass dicke Menschen ein höheres Gesundheitsrisiko haben als schlanke? In Wahrheit war das Bild von Anfang an schief. Der Fehler besteht darin, dass seit Jahrzehnten die Gesundheitsrisiken »gestresster Dicker« mit denen von »entspannten Schlanken« verglichen wurden. Dabei haben die gestressten Dicken in der Tat gesundheitliche Nachteile. Aber warum? Weil sie dick sind? Oder weil sie gestresst sind? Vergleicht man aber gestresste Dicke mit gestressten Schlanken, offenbart sich die eigentliche Problematik: Die durch das Dauer-Cortisol bedingten Gesundheitsrisiken der gestressten Dünnen überwiegen bei Weitem die gesundheitlichen Nachteile der Fettleibigkeit (zum Beispiel verstärkter Gelenkverschleiß durch Arthrose). Über welche Dimensionen wir hier sprechen, macht die Verteilung der Erscheinungsformen deutlich:
Nur ein geringer Anteil der Gesamtbevölkerung ist schlank und nicht gestresst (wahrscheinlich weniger als 20 Prozent).
Den weitaus größeren Anteil der Bevölkerung bilden die anderen beiden Erscheinungsformen, die in stressvoller Umgebung anzutreffen sind: der bauchbetonte Typ A und der hüftbetonte Typ B.
Es gibt für die Industrienationen zuverlässige Statistiken, in welchem Umfang der Anteil der Menschen, die starkgewichtig geworden sind, in der Bevölkerung des jeweiligen Landes zugenommen hat. Allerdings wird mittlerweile aus einigen Ländern, in denen der Anteil dicker Menschen in der Bevölkerung besonders hoch ist, wie etwa in Australien, China, England, Frankreich, den Niederlanden, Neuseeland, Schweden, Schweiz und den USA gemeldet, dass ein gewisser »Sättigungsgrad« sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen erreicht ist und der Prozentsatz an dicken Menschen 50 Prozent nicht mehr übersteigt. Das würde dafürsprechen, dass in diesen Ländern nahezu alle B-Typen schon ihre dicke Erscheinungsform angenommen haben – also dauerhaft gestresst sind oder waren.
Der Anteil der gestressten Dünnen ist nicht ganz so einfach auszumachen. Doch es darf angenommen werden, dass diese Gruppe etwa so groß ist wie die der gestressten Dicken. Unschärfen können beispielsweise entstehen, weil gestresste A-Typen, die eine Depression entwickeln und deswegen Antidepressiva einnehmen, infolge der Nebenwirkung dieser Pharmaka zunehmen. Es gibt andererseits gestresste B-Typen, die ihre Kalorienaufnahme künstlich beschränken und dadurch ihre Gewichtszunahme zunächst verhindern. Wer durch Diäten oder andere Abnehmbemühungen sein Gewicht runtergehungert hat, ist auf jeden Fall ein Mensch, der sich seine schlankere Figur mit einem permanent destabilisierten Hirnstoffwechsel (erhöhtes Cortisol, verminderte Hirnleistung) und den damit verbundenen mittel- bis langfristigen Gesundheitsrisiken erkauft. Und wer als Typ B mehrfach versucht, sich schlank zu hungern, es aber nicht schafft, der hat am Ende beides – ein hohes Körpergewicht und einen Bauch.
Doch es gibt auch eine unmittelbare Auswirkung: Der innere Kampf gegen das eigene Körpergewicht hält den Stresspegel hoch und sorgt für schlechte Stimmung, Reizbarkeit, zuweilen auch erhöhte Aggressionsbereitschaft. Wenn ich bei Vorträgen erläutere, dass Gewichtszunahme kein Hinweis auf Disziplinlosigkeit oder einen schwachen Willen ist, sondern vielmehr Ausdruck des natürlichen Energiebedarfs des Gehirns, erlebe ich neben großer Erleichterung (meist von starkgewichtigen Menschen) aber auch teilweise ablehnende Reaktionen im Publikum. Fast immer sind es schlanke Menschen, die sehr emotional und heftig reagieren. Die Dicken – so der Tenor der Kritik – könnten abnehmen, wenn sie nur wollten; dass sie sich immer fetter fressen, würde einen aufregen; man könne das nicht nachvollziehen; man selbst würde es ja auch schaffen, schlank zu bleiben – usw.
Ich möchte an dieser Stelle nicht darüber spekulieren, welche tieferen psychologischen oder biologischen Gründe diese Vehemenz haben könnte. Sie ist aber offenkundig Ausdruck einer mehr oder weniger unverhohlenen Ablehnung dicken Menschen gegenüber, die in unserer Gesellschaft nicht unbedingt auf Respekt, Toleranz und Verständnis zählen dürfen.
2 Formel zur Berechnung:
Taillen-Größen-Index = Taillenumfang in Metern/Körpergröße in Metern