Das wäre wunderschön, doch die mediterrane Küche beinhaltet so ziemlich alles, was deutsche Ernährungsexperten strikt ablehnen: als Aperitif ein Gläschen Pastis oder Ouzo. Morgens ein knappes, süßes Frühstück. Mittags statt einer Schüssel Rohkost eine Zwiebelsuppe, überbacken mit fettem Käse, dazu etwas Weißbrot. Als Hauptmahlzeit am Abend schließlich saftiges Fleisch vom Grill, natürlich schön durchwachsen. Das butterweiche (sprich totgekochte) Gemüse schwimmt seit Stunden im Olivenöl und ist kräftig gesalzen. Dazu eine Flasche Retsina, Rioja oder Beaujolais, ohne die wagt man ja nicht von Eßkultur zu sprechen. So hat es wohl jeder, der schon einmal als Tourist am Mittelmeer weilte, erlebt und genossen. Im krassen Gegensatz dazu steht, was die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) als »Mittelmeerdiät« (mit der Betonung auf »Diät«) definiert hat und in Artikeln, Büchern und Broschüren verbreitet: Fleisch von »Hammel, Lamm, Schwein« sollten »eher selten verzehrt« werden, dafür aber reichlich »Nüsse, Kerne und Samen« – so liest man in einer aktuellen Darstellung. Was wie Ratschläge zur Fütterung von Eichhörnchen klingt, soll angeblich die typische Ernährung der südländischen Landbevölkerung beschreiben. Eine Konsensuskonferenz der Weltgesundheitsorganisation kam sogar zu dem Schluß, »rotes Fleisch« dürfe nur einige »wenige Male im Monat« gegessen werden.
Und tat man sich bisher schon schwer, einen mäßigen Konsum von Alkohol zuzugestehen, ist dieses anrüchige Produkt neuerdings gar nicht mehr Bestandteil in der »Ernährungspyramide« der postmodernen »traditionellen mediterranen Kost«. Stattdessen gibt es jeden Tag reichlich Vollkornbrot, dazu jede Menge Rohkost (allen Ernstes werden im Sprachrohr der DGE, der »Ernährungs-Umschau«, als Beispiel für Rohkost Auberginen genannt). An diesen leckeren Salat gießen sie nun vorsichtig »heimisches Rapsöl« statt Olivenöl. (Die Agrarpolitiker, die auf ihrem Biodiesel sitzengeblieben sind, werden sich vor Vergnügen auf die Schenkel hauen.) Mit solchen Empfehlungen gelingt es der deutschen Ernährungselite, nicht nur Alltagserfahrung und den störenden gesunden Menschenverstand außen vor zu halten, sondern auch so ziemlich alle wissenschaftlichen Ergebnisse der letzten Jahrzehnte auf den Kopf zu stellen.
Auslöser für das Interesse an der Mittelmeerküche war eine groß angelegte Untersuchung, die sogenannte Sieben-Länder-Studie, die klären sollte, welcher Zusammenhang zwischen der Ernährung und dem Auftreten von koronaren Herzerkrankungen besteht. Dazu befragte man in den fünfziger und sechziger Jahren Menschen in Finnland, Holland, Italien, Griechenland, Jugoslawien, Japan und den USA nach ihren Ernährungsgewohnheiten und verglich diese Angaben mit den statistischen Daten zur Häufigkeit von Herzinfarkten und anderen Erkrankungen, die auf die Verengung der Herzkranzgefäße zurückzuführen sind. Dabei bestätigte sich zum wiederholten Mal, daß die koronaren Herzerkrankungen in den Mittelmeerländern seltener sind als in den nördlichen Industrienationen. Von den erhobenen Ernährungsdaten pickte sich jeder Auswerter die heraus, die sich noch am leichtesten mittels Statistik in sein Weltbild einpassen ließen: Am beliebtesten waren die Interpretationen, mit viel Rohkost und wenig Fett ließe sich der Herzinfarkt vermeiden.
Was die Ernährungsexperten denn doch irritierte: Der Fettkonsum ist rund ums Mittelmeer traditionell sehr hoch, und Kreta hat den höchsten in ganz Europa. Hier nehmen die Bewohner über 40 Prozent ihrer Kalorien in Form von Fett zu sich! Und genau hier ist – laut Sieben-Länder-Studie -Herzinfarkt fast unbekannt. Die Kreter trinken manchmal sogar zum Frühstück statt Orangensaft ein Gläschen Olivenöl. In den untersuchten Regionen machte Olivenöl 50-75 Prozent des verzehrten Fetts aus. Peinlich für die Fachwelt: Olivenöl enthält kaum mehrfach ungesättigte Fettsäuren, die bislang als das gesundheitliche Nonplusultra gegolten hatten. Es half nichts, Olivenöl mußte ins Weltbild integriert werden. Kurzerhand brach man mit dem alten Dogma und erklärte, die vormals gefährlichen einfach ungesättigten Fettsäuren des Olivenöls seien ab sofort ebenso gesund wie mehrfach ungesättigte. Inzwischen rudert man schon wieder zurück. Seit der Konsensuskonferenz der Weltgesundheitsorganisation im Januar 2000 in London ist das Gegenteil wahr. Seither soll die klassische mediterrane Ernährung reich an den gesunden mehrfach ungesättigten Fetten sein. Aber warum in aller Welt hat das bisher niemand gemerkt? Weil man wichtige Details des Olivenanbaus übersehen habe: »In Jahren mit schlechter Olivenernte oder in den höher gelegenen Regionen, wo Oliven eingeschränkt angebaut werden« (vielleicht im dicht bevölkerten Hochgebirge auf Kreta?), konsumieren die Menschen eben kaum Olivenöl, sondern notgedrungen andere Öle aus einheimischen »Nüssen, Kernen und Samen«, deren Namen man vornehm verschweigt. Die haben wieder die richtigen Fettsäuren und müssen daher für die niedrigeren Infarktraten verantwortlich sein.
Sollte Olivenöl im Mittelmeerraum tatsächlich Mangelware gewesen sein? Kaum zu glauben angesichts der Verzehrszahlen. Hatten die Menschen auf dem Land womöglich keine Gelegenheit, auf dem Handelswege an derart exotische Güter wie Olivenöl zu gelangen? Solche Überlegungen – so unglaublich und irrational sie auch klingen mögen – werden ernsthaft auf Kongressen von Ernährungsexperten diskutiert und dann mit Steuergeldern als quasi-amtliche Verlautbarungen unters Volk gebracht.
Nicht viel besser ist es um den Wahrheitsgehalt der übrigen Behauptungen bestellt. Etwa, daß die Menschen im Mittelmeerraum ihr gesundes Herz dem Verzicht auf Fleisch und tierisches Fett zu verdanken hätten. Im Gegenteil: Die Franzosen essen viel tierisches Fett und Cholesterin in Form von Käse und erfreuen sich einer vergleichsweise niedrigen Herzinfarktrate. In Spanien geht die Herzinfarktrate seit etwa 30 Jahren kontinuierlich zurück. Parallel dazu sank der Brot- und Gemüseverbrauch, und der Verzehr von Fleisch und Käse vervielfachte sich. Auch der Fettkonsum nahm zu.
Nach den Statistiken der Zentralen Markt- und Preisberichtsstelle (ZMP) verbrauchen die Italiener 90 Kilo Fleisch pro Kopf und Jahr (fast soviel wie die Deutschen mit 93 Kilo), die Franzosen bringen es auf 110 Kilo und die Spanier gar auf 117 Kilo. Überflüssig zu sagen, daß man in diesen Ländern nach Rohkost, Rapsöl oder »dunklen« Brotsorten lange suchen muß. Lediglich Vollkornreis und Vollkornnudeln haben deutsche Touristen bereits in italienischen Supermärkten gesichtet – in der Hundefütterabteilung.
Insgesamt betrachtet, glichen sich die Ernährungsgewohnheiten rund ums Mittelmeer in den letzten 30 Jahren mehr und mehr der ungesunden »western diet« (so die englische Bezeichnung für die Ernährungsweise in den Industrienationen) an, während Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems im gleichen Zeitraum zurückgingen. Egal wie man die Daten im einzelnen wertet, eine Schlußfolgerung läßt sich auf jeden Fall begründen: Die gesunde Ernährung im Mittelmeerraum verstößt in nahezu jeder Hinsicht gegen unsere über Jahrzehnte gepredigten Ernährungsempfehlungen. Damit sind die Ratschläge »anerkannter« Experten nur mit äußerster Vorsicht zu genießen – sie könnten Ihre Gesundheit gefährden. Sofern man die Unterschiede in den Todesursachen rund ums Mittelmeer im Vergleich zu den nördlicheren Industriestaaten unbedingt auf Ernährungsgewohnheiten zurückführen will, liegt es vermutlich weniger am Konsum geheimnisvoller »Kerne und Samen« auf Kreta, am Baguettegenuß in der Provence oder dem Appetit auf Steaks in Andalusien. Wenn schon Ernährung, dann bietet sich eine ganz andere Gemeinsamkeit als des Rätsels Lösung an: Die Sieben-Länder-Studie weist für die Mittelmeerregionen mit 43 Gramm pro Kopf und Tag den höchsten Alkoholkonsum aus (das ist ein halber Liter Wein für jedermann, vom Säugling bis zum Greis). Womöglich ist die Mittelmeer» diät« wirklich besser fürs Herz, dann aber in einem anderen Sinne, als es sich ihre Protagonisten vorgestellt haben: Essen, was schmeckt, und dazu einen guten Tropfen genießen.
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