Ratgeber

Die Gene oder das Essen?


Eine Überlegung vorweg: Die Änderung der Gene einer ganzen Bevölkerungsschicht oder einer biologischen Gruppe von Lebewesen ist eine Frage von Jahrtausenden, wenn nicht Jahrmillionen. Das Problem Übergewicht als Massenproblem gibt es erst ein paar Jahrzehnte.
Eine zweite Überlegung: Übergewicht betrifft die sozial schwächeren Schichten stärker als Mittel- und Oberschicht und trifft, global gesehen, die Schwellenländer, die einen rasanten Übergang von einem unterentwickelten zu einem industrialisierten Land vollziehen, besonders schwer. Das Phänomen Übergewicht aus dieser Weitwinkelperspektive betrachtet führt uns ganz deutlich vor Augen, dass die Umwelt eine bedeutende Rolle spielt.
Die historische Entwicklung: In den letzten 50 Jahren kam es zu einem dramatischen Anstieg von Übergewicht. Die WHO spricht unverhohlen von einer Adipositas-Epidemie. Die neuesten Zahlen für Deutschland berichten, dass zwei Drittel der männlichen Bevölkerung und die Hälfte der weiblichen Bevölkerung übergewichtig ist. Für die USA wird nun ein Anteil an Übergewichtigen von generell zwei Drittel der Bevölkerung angenommen. Ernährung und Bewegungsmuster haben sich drastisch verändert. Das Nahrungsangebot ist enorm gewachsen. Im Gegenzug dazu ist der Energieaufwand durch tägliche Arbeit stark gesunken, denn es sind nun nicht mehr Schwerarbeit und Handwerk, sondern sitzende Berufe die Regel. Selbst Kinder spielen nicht mehr auf dem Fußballplatz, sondern am PC und essen dabei. Es gibt bereits Schulkinder mit Diabetes und anderen Erkrankungen, die noch vor wenigen Jahren für Über-60-Jährige reserviert zu sein schienen. „Altersdiabetes“ bei einem Schulkind behandeln zu müssen, das hätte sich vor 20 Jahren noch kein Arzt träumen lassen.
Trotz dieser ganz augenscheinlichen Rolle unseres Lebensstils beim Dickwerden geht man davon aus, dass Übergewicht zu 40-60 % genetisch verursacht ist. Der Gedanke, dass eine Erkrankung oder eine Eigenschaft genetisch bedingt sein könnte, tritt dann auf, wenn diese in bestimmten Familien gehäuft, in anderen wiederum sehr selten vorkommen. Da aber die Familienmitglieder nicht nur die Gene, sondern auch alle Umweltbedingungen teilen und somit in einem psychosozialen System leben, das durch ähnliches Erleben und durch ähnliche Lebens-, Verhaltens- und Ernährungsweisen geprägt ist, ist die Unterscheidung zwischen erblichen und umweltbedingten Faktoren schwierig. Hier helfen vor allem Zwillings- und Adoptivstudien. Adoptivkinder teilen mit ihren biologischen Eltern die Gene, mit ihren Adoptiveltern die Umweltbedingungen. Jede Übereinstimmung zwischen Kindern und biologischen Eltern ist also in diesem Fall genetisch bedingt, während Übereinstimmungen mit den Adoptiveltern umweltbedingt sein müssen. In solchen Studien zeigte sich ein dominierender Einfluss von genetischen Faktoren auf die Entstehung von Übergewicht. Auch Studien an eineiigen Zwillingen, die getrennt aufwuchsen, bestätigten dies.
Ist ein Elternteil stark übergewichtig (adipös), wird das Kind zu 40 % übergewichtig, sind beide Elternteile adipös, sogar zu 80 %! Umgekehrt kann auch bei extrem übergewichtigen Kindern fast immer ein Elternteil mit Übergewicht gefunden werden, bei einem Drittel sind sogar beide Elternteile übergewichtig. „Zu 50-60 % ist Übergewicht genetisch bedingt”, erklärt der Humangenetiker Johannes Hebebrand von der Universität Essen-Duisburg. Interessanterweise ist gerade das gefährliche Fett genetisch gesteuert, nämlich das im Bauchraum gespeicherte Fett (der Kugelbauch), das mit einem hohen Risiko für Herzgefäßerkrankungen, Herzinfarkt und Schlaganfall verbunden ist. Das weibliche Fettverteilungsmuster (an den Hüften und an den Oberschenkeln) ist wesentlich weniger durch genetische Faktoren beeinflusst und stellt weniger Risikofaktor dar.

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