Der Ort allen Denkens und Fühlens und der Ort, an dem unsere Persönlichkeit wohnt: Das menschliche Gehirn ist – soweit wir das beurteilen können – die komplexeste Struktur im Universum. In der Erforschung Künstlicher Intelligenz ist es bis heute nicht gelungen, ein Computerprogramm zu schreiben, das es mit den Fähigkeiten unseres Gehirns aufnehmen könnte. Es sind menschliche Gehirne, die immer komplexere wissenschaftliche Entdeckungen machen oder technische Entwicklungen vorantreiben. Und obwohl die Neurowissenschaften täglich neue Erkenntnisse über das Gehirn liefern, sind die meisten Fragen noch ungeklärt. Wir alle können uns sicher darauf einigen, dass unsere Gehirne über ein fantastisches Leistungsvermögen verfügen und dass viele der Vorgänge, die jederzeit in unserem Kopf passieren und die unser Leben bestimmen – vom Herzschlag bis hin zu der Entscheidung, ob ich mir ein neues Auto kaufe –, für uns nicht einmal annähernd nachvollziehbar oder erklärbar sind. Die Komplexität des eigenen Gehirns gibt uns immer wieder Rätsel auf. Und obwohl wir das alles wissen und es auch niemand ernsthaft bezweifelt, gibt es einen Bereich, in dem das Gehirn für wenig intelligent erachtet, ja sogar als beigeordnet angesehen wird, bei seiner eigenen Energieversorgung. Fast alle Diätkonzepte gehen von der Annahme aus, dass Fettzellen als intelligente Saboteure unseres Körpers fungieren, denen man nur das Handwerk legen muss, um schlanker zu werden. Erstaunlicherweise hat sich bisher kaum jemand gefragt, ob Gewichtszunahme vielleicht einen tieferen Grund haben könnte. Schließlich passiert in unserem Organismus nichts grundlos. Kaum zu glauben, aber wahr: Obwohl wir wissen, wie ungeheuer intelligent und komplex unser Gehirn ist, kam lange Zeit niemand auf die Idee, dass es auch bei einem so folgenschweren Vorgang wie der Gewichtszunahme des Körpers eine entscheidende Rolle spielen könnte.
Passiv oder aktiv – ist unser Gehirn eine gute Restaurantchefin?
Nehmen wir an, unser Gehirn müsste ein Restaurant leiten. Eine der wichtigsten Aufgaben bestünde im Einkauf. Wie viele Gäste kommen? Wie viele Lebensmittel müssen also eingekauft werden, damit die Küche alles zubereiten kann, was bestellt wird? Eine gute Restaurantmanagerin würde schauen, wie viele Personen vorbestellt haben, und anhand ihrer Erfahrungen abschätzen, mit welcher Anzahl zusätzlicher Gästen an diesem Tage zu rechnen ist. Aus diesen Erkenntnissen würde sie ihre Lebensmittelbestellung beim Großhandel so abstimmen, dass alle satt werden und möglichst wenig übrig bleibt.
Ihre träge Kollegin geht die Sache ganz anders an: Sie bestellt einfach jeden Tag die gleiche Menge. Soll die Küche sehen, wie sie das Problem löst. Sind zu viele Lebensmittel vorrätig, kommt der Rest in die Kühlung, sind es zu wenige, werden einige Gäste eben hungrig weggeschickt. Während also die erste Restaurantmanagerin aktiv versucht, den Bedarf zu berechnen, harrt ihre passive Kollegin der Dinge, die da kommen. Die Frage aber lautet: Welche Strategie wäre aus Sicht des Gehirns am vorteilhaftesten?
Tatsächlich galt bis in die 90 er Jahre des 20. Jahrhunderts die Annahme, dass das Gehirn zu 100 Prozent passiv durch das Glukoseangebot aus dem Blut versorgt wird. Man nahm an, dass die Leistungsfähigkeit des Gehirns immer nur so gut war, wie es der Blutzuckerspiegel ermöglichte: War wenig Glukose im Blut, konnte das Gehirn halt weniger leisten, und es hatte sich damit abzufinden. Die meisten Therapien und Diäten zur Gewichtsreduzierung basieren bis heute auf dieser Grundannahme einer passiven Hirnversorgung.
Heute wissen wir, dass diese Vorstellung nicht stimmt. Das System ist – wie sollte es auch bei unserem Gehirn anders sein – viel raffinierter, komplexer und effektiver. Ähnlich wie die aktive Restaurantmanagerin versucht das Gehirn zu analysieren, wie viel wann genau benötigt wird. Die neuere Hirnforschung hat gezeigt, dass das Gehirn zur Deckung seines wechselnden Bedarfs die Energie aus dem Blut aktiv anfordert, und zwar indem der Energiefluss vom Blut ins Gehirn durch Angebot und Nachfrage reguliert wird. In Ruhe verbrauchen die Nervenzellen des Gehirns zu ihrer Grundversorgung vor allem Glukose. Arbeitende Nervenzellen verwenden hingegen für ihre elektrische Aktivität nicht direkt die Glukose, die vom Darm aus der Nahrung gewonnen oder von der Leber freigesetzt wird – genauso wenig, wie die eingekauften Lebensmittel im Restaurant einfach unverarbeitet an die Gäste verteilt werden. Sobald die Nervenzellen arbeiten, decken sie ihren Energiebedarf quasi à la carte, indem sie Laktat »bestellen«. Dieses Laktat (Milchsäure) wird direkt aus Glukose gewonnen, bevor es die Nervenzellen »verzehren«. Die Nervenzellen des Gehirns fordern also Laktat an, und zwar in dem Moment, wenn sie die Energie brauchen, und in der Menge, die nötig ist, um ihren hohen Bedarf zu decken. Anders als im Restaurant gibt es im menschlichen Organismus nach der Bestellung aber so gut wie keine Wartezeit. »Serviert« wird sozusagen sofort, oder wie man in der Wirtschaftslehre sagt, »just in time«. Dieses Versorgungsprinzip ist in seiner Effektivität genial einfach: Das Gehirn kann jederzeit beim Körper Energie bestellen, unabhängig davon, ob wir gerade etwas gegessen haben oder nicht. Die konventionelle Sichtweise von Medizin und Ernährungsforschung hatte die Rolle des Gehirns bei der Hirnversorgung also stark unterschätzt und außer Acht gelassen, dass das Gehirn selbst ein aktiver Regler seiner eigenen Energieversorgung ist.
Zum Glück selbstsüchtig – wie das Gehirn den anderen Organen sagt, was es braucht
Aus diesem Prinzip der Selbstversorgung des Gehirns mit Energie habe ich den metaphorischen Begriff der Selfishness – Selbstsüchtigkeit – abgeleitet. Der Begriff der »Selbstsucht« hat in unserem Sprachverständnis allerdings einen negativen Beigeschmack. Egoismus gilt als eine eher negative Charaktereigenschaft, weil sie impliziert, dass jemand sich auf Kosten anderer oder der Allgemeinheit Vorteile verschafft und so Schaden anrichtet. Auch der Egoismus unseres Gehirns bei der Energiebeschaffung besteht vor allem darin, dass es sich vor allen andern Organen bedient. Es kann zu diesem Zweck sogar die Energiezufuhr aller übrigen Organe des Körpers regelrecht drosseln – in extremen Situationen auch auf die Gefahr hin, dass die Organe Schaden nehmen. So gesehen erfüllt das Gehirn den Tatbestand der Selbstsucht. Doch der Egoismus des Gehirns hat auch eine andere Seite, und die ist von entscheidender Bedeutung: Der Vorteil, den sich das Gehirn durch die Sicherstellung der Energieversorgung verschafft, dient auch den Interessen der anderen Organe, die nämlich nur dann überleben können, wenn das Gehirn handlungs- und lebensfähig bleibt.