„Partyleben“ und Schichtarbeit führen nicht nur zu Schlafmangel, sondern wie beim Jetlag auch zu einer Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus, wobei bei empfindlichen Personen bereits Verschiebungen der Bettgehzeiten um ein bis zwei Stunden ungünstig sein können. Zudem ist auch die Schlafqualität, d. h. der Anteil von Tiefschlaf und die Anzahl von Unterbrechungen für den Erholungswert des Schlafes von Bedeutung. Alle diese Faktoren, wie Schlafmangel, unregelmäßiger Schlafrhythmus und Schlafunterbrechungen, können von Personen unter 40 Jahren oft erstaunlich gut kompensiert werden. Weil diese Kompensationsfähigkeit aber mit dem Alter abnimmt, beklagen sich Patienten über 40 nicht selten über Schläfrigkeit. Sie verstehen nicht, dass sie früher mit sechs bis sieben Stunden Schlaf ausgekommen sind und trotz wechselnder Schlafenszeiten nicht schläfrig waren.
Der Übergang von der normalen zu einer pathologischen Müdigkeit ist fließend. Das zweite Fallbeispiel illustriert dies.
Fallbeispiel Tamara, die erschöpfte Erzieherin
Tamara hatte sich bei mir (als Fachmann für psychosomatische Beschwerden) gemeldet, weil sie unter Müdigkeit und verschiedenen Schmerzbeschwerden litt, für welche ihr Hausarzt keine Ursache hatte finden können. Ihre Blutwerte waren völlig normal und eine Darmspiegelung (Koloskopie) einschließlich einer mikroskopischen Untersuchung einer Gewebeprobe (zytologische Untersuchung) hatte einen unauffälligen Dickdarm gezeigt.
Tamara war Erzieherin und arbeite als Gruppenleiterin in einer Kinderkrippe. Da die Arbeitsbelastung durch Stellenabbau in den letzten Jahren zugenommen hatte, fühlte sie sich nach der Arbeit sehr erschöpft. Oft mochte sie abends nichts mehr unternehmen und legte sich schon früh (ca. 20 Uhr) schlafen, um sich morgens um 6 Uhr einigermaßen ausgeruht zu fühlen. Trotz ihrer Erschöpfung schlief sie aber unruhig, träumte viel und lag unter Umständen längere Zeit wach. Häufig war sie auch von Kopf- und Schulter-Nacken-Schmerzen geplagt sowie von einer Reizdarmsymptomatik, d. h., sie litt unter schmerzhaften Blähungen verbunden mit Verstopfung, die dann plötzlich zu Durchfall wechselte. Sie hatte ihren Beschäftigungsgrad auf 80% reduziert, doch hatte dies ihre Erschöpfung nicht gelindert, wobei sie sich von ihren Aufgaben als Gruppenleiterin nicht entlasten konnte. Das zeitraubende Abfassen von Berichten blieb in ihrer Verantwortung, weshalb sie dies – wenn sie mit Berichten in Rückstand geraten war – manchmal zu Hause erledigen musste. Die Erschöpfung quälte sie vor allem abends, aber auch an Wochenenden und in den Ferien. Während der Arbeit nahm sie es nicht wahr, außer während Sitzungen, sonst war sie zu sehr dauernd „auf Trab“. Ihr Freund und Lebenspartner war sehr hilfsbereit und verständnisvoll, allerdings abends oft auch gar nicht zu Hause, weil er Schicht arbeitete oder in seinen Fußballverein ging. Auch am Wochenende war er oft abwesend wegen seiner Fußballspiele.
Tamara litt neben ihrer anhaltenden und quälenden Müdigkeit auch unter einer gesteigerten Ermüdbarkeit nach geistiger Anstrengung sowie Konzentrations- oder Gedächtnisstörungen. Sie hatte abends Mühe, sich auf ihre Berichte, ein Buch oder nur einen Zeitungsartikel zu konzentrieren. Es ging nichts mehr in den Kopf, und sie vergaß Dinge, die sie gelesen oder gehört hatte, rasch wieder.
Tamaras Symptomatik ist typisch und auch ihre erste Reaktion: Wer sich schon nach geringen Anstrengungen langdauernd müde und rasch erschöpft (körperlich schwach) fühlt, obwohl er eher viel schläft und sich häufig ausruht, fragt sich, ob etwas mit seinem Körper nicht stimmt. Deshalb ist es richtig und wichtig, vorerst nach körperlichen Ursachen der Müdigkeit oder unerholsamem Schlaf zu fahnden. (Diese Ursachen werden in Abschn. 1.5 und 1.6 erläutert.) Doch verläuft der Gang zum Arzt oft unbefriedigend, wenn seine Untersuchungen ohne Ergebnis bleiben. Was eigentlich beruhigend sein sollte, nämlich dass keinerlei Hinweise auf irgendeine Krankheit oder Mangelerscheinung gefunden werden konnten, bleibt aber beunruhigend, weil ja die Müdigkeit weiter besteht. Entsprechend sind hilflose Äußerungen des Arztes wie „Sie sind gesund!“ oder „Ihnen fehlt nichts!“ eher verunsichernd, denn die Betroffenen fühlen sich mit ihrem Leiden nicht ernst genommen oder trauen ihrem Arzt nicht. Auf diese Problematik wird in den Kapiteln 3, 7 und 9 vertieft eingegangen, aber sie wird uns auch in den nun folgenden Abschnitten immer wieder beschäftigen.
Somit suchen die Betroffenen weiterhin nach einem Grund für das beunruhigende Leiden. Da die Symptome oft im Anschluss an eine grippale Erkrankung oder an eine besonders belastende Zeit erstmals aufgetreten sind, hoffen die Betroffenen auf allmähliche Erholung. Doch langsam kommen ernsthafte Bedenken auf, ob nicht doch eine andere Krankheit vorliegen könnte.